"Demokratie ist die Hure der freien Welt"

Auf dem Weg zur imperialen Demokratie

Von Arundhati Roy

Die Demokratie, heilige Kuh der modernen Welt, steckt in einer tiefen Krise. Empörendes und Schändliches aller Art wird im Namen der Demokratie verübt. Von ihr blieb wenig mehr als ein hohles Wort, eine hübsche Hülse, allen Inhalts und sämtlicher Bedeutung entleert. Demokratie kann alles sein, was man in ihr sehen will. Sie ist die Hure der freien Welt, bereit, sich herauszuputzen und andere niederzumachen; bereit, ein breites Geschmacks-Spektrum zu befriedigen; verfügbar, um nach Belieben benutzt und missbraucht zu werden. Noch bis vor kurzem, bis in die 80er Jahre, schien es so, als ob Demokratie es tatsächlich fertig bringen könnte, Hoffnungen auf ein gewisses Maß echter sozialer Gerechtigkeit zu erfüllen.

Doch moderne Demokratien existieren nun bereits so lange, dass Vertreter eines neoliberalen Kapitalismus genug Zeit hatten zu lernen, wie Demokratie zu korrumpieren ist. Die neo-liberalen Kapitalisten sind Meister darin geworden, die Instrumente dieser Staatsform - die unabhängige Justiz, die freie Presse, das Parlament - zu infiltrieren und sie für ihre Bedürfnisse zu modellieren. Mit ihrer gezielten Konzernglobalisierung haben sie das System endgültig geknackt. Freie Wahlen, eine freie Presse und eine unabhängige Justiz bedeuten wenig, wenn sie durch den freien Markt zu verkäuflichen Gütern abgewertet und an den Meistbietenden verhökert werden.

Um ganz zu begreifen, in welchem Umfang die Demokratie unter Belagerung steht, könnte es hilfreich sein, einen Blick darauf zu werfen, was in einigen unserer heutigen Demokratien vor sich geht, wie in der mächtigsten der Welt: den USA. Oder, besonders aufschlussreich, im Irak, der als jüngste Demokratie der Welt in dieses Regierungssystem eingewiesen werden soll. Demokratie ist zum imperialen Euphemismus für neo - liberalen Kapitalismus geworden.

In Ländern der ersten Welt wurden die demokratischen Mechanismen wirksam unterwandert. Politiker, Medienzaren, Richter, mächtige Konzern- Lobbies und Regierungsbeamte pflegen untereinander diskrete, clever verzahnte wechselseitige Beziehungen und unterminieren dadurch die laterale Balance der Gewaltenteilung zwischen Verfassung, Gerichten, Parlament, Regierung und den unabhängigen Medien als struktureller Basis der parlamentarischen Demokratie. Zunehmend wird bei dieser Verzahnung auf Subtilität oder sorgfältig erdachte Verschleierung verzichtet.

Italiens Premierminister Silvio Berlusconi besitzt beispielsweise Mehrheitsanteile an den wichtigsten italienischen Zeitungen, Zeitschriften, Fernsehkanälen und Verlagen. Laut Berichten der Financial Times herrscht er mit seiner Medienmacht über zirka 90 Prozent der italienischen Fernsehzuschauer. Keine guten Aussichten für die übrigen zehn Prozent der italienischen Fernsehzuschauer. Das Recht der freien Meinungsäußerung: zu welchem Preis und für wen?

In den Vereinigten Staaten ist das Arrangement komplexer. Der Konzern Clear Channel ist der größte Eigentümer von Radiosendern im Land. Er betreibt über 1200 Kanäle. Dies entspricht insgesamt einem Marktanteil von etwa neun Prozent. Der Leiter des Konzerns unterstützte den Wahlkampf von George W. Bush mit hohen Summen. Als Hunderttausende amerikanischer Bürger auf die Straße gingen, um gegen einen Krieg im Irak zu demonstrieren, organisierte der Clear Channel im ganzen Land Gegendemonstrationen patriotischer Kriegsbefürworter unter dem Motto "Rallies for America". Mit Hilfe der eigenen Radiosender wurde für das Ereignis geworben, und Korrespondenten losgeschickt, um darüber wie über eine überraschende Neuigkeit zu berichten. Die Zeit der künstlich durch Medien erzeugten Zustimmung zu öffentlichen Vorgängen ist einer Zeit gewichen, in der Nachrichten durch die Medien selbst erzeugt werden. Nicht mehr lange, und in den Redaktionen wird darauf verzichtet werden, den Schein zu wahren. Dann wird man Theaterregisseure statt Journalisten engagieren.

Während im amerikanischen Showbusiness immer mehr Gewalt und kriegsähnliche Zustände herrschen und Amerikas Kriege dem Showbusiness immer ähnlicher werden, kommen einige interessante Querverbindungen zustande. Der selbe Designer, der für 250 000 Dollar ein Set in Katar aufbaute, von dem aus US-General Tommy Franks als eine Art Aufnahmeleiter die Berichterstattung über die Operation im Irak dirigierte, hat auch für Disney, MGM und die Frühstücks-TV-Sendung Good Morning America Sets gebaut.

Es ist eine bittere Ironie, dass gerade die USA mit ihren lautstarken und glühenden Verteidigern der Idee der freien Meinungsäußerung die Grenzen für die tatsächliche Ausübung dieses freiheitlichen Rechts (das dort bis vor kurzem noch durch detaillierte Gesetze geschützt war) jetzt derart eng ziehen. Ton und Vehemenz der Verteidigung helfen auf eigenartig verschlungenen Wegen mit, den rasch voranschreitenden Aushöhlungsprozesses zu maskieren. Es wird ein hartes Ringen nötig sein, um die Demokratie zurückzufordern.

Unsere Freiheiten und Rechte wurden uns nicht von irgend einer Regierung gewährt. Sie wurden von uns mühsam errungen. Wenn wir sie einmal aufgegeben haben, wird der Kampf um ihre Rückgewinnung als "Revolution" bezeichnet werden. Dieses Ringen muss sich über Länder und Kontinente erstrecken. Es darf nicht an Landesgrenzen Halt machen. Doch wenn es erfolgreich sein soll, muss es in Amerika beginnen. Die einzige Institution, die mächtiger als die US-Regierung ist, ist die amerikanische Bürgergesellschaft. Wir anderen sind Subjekte von Sklaven-Nationen. Zwar sind wir keineswegs machtlos, doch die Amerikaner sind durch ihre Nähe zum Machtzentrum privilegiert. Sie haben Zugang zum Palast und zu den Gemächern des Herrschers. Imperiale Eroberungen werden in ihrem Namen durchgeführt, und sie haben das Recht, Nein zu sagen. Sie könnten sich weigern zu kämpfen, sich weigern, diese Raketen von ihren Lagern zu den Docks zu transportieren.

Amerika besitzt eine reiche Tradition des Widerstandes. Zu Hunderttausenden haben Amerikaner die unerbittliche Propaganda überlebt, der sie im Irak-Krieg ausgeliefert waren und aktiv gegen die eigene Regierung gekämpft. In dem ultra-patriotischen Klima, das in den Vereinigten Staaten derzeit herrscht, zeugt dies von so viel Mut, wie ein Iraker, ein Afghane oder ein Palästinenser braucht, um für die eigene Heimat zu kämpfen. Wenn die Amerikaner sich dem Ringen anschließen - nicht nur zu Hunderttausenden, sondern zu Millionen - werden sie vom Rest der Welt mit Jubel begrüßt werden. Sie werden erleben, wie großartig es ist, sanft und freundlich statt gewalttätig zu sein, sich sicher statt angstvoll zu fühlen. Freunde zu haben, statt isoliert zu sein. Geliebt statt gehasst zu werden.

Ich widerspreche nur ungern dem amerikanischen Präsidenten. Dennoch: Die Amerikaner sind keineswegs eine große Nation. Was sie jedoch sein könnten, ist ein großartiges Volk.

Übersetzung von Eva C. Koppold


Arundhati Roy, indische Schriftstellerin, hat in New York zu amerikanischen Kriegsgegnern gesprochen. Der ganze Text steht unter www.cesr.org



Süddeutsche Zeitung